Stromlinien – der neue eActros 600
Anfang Oktober hat Mercedes-Benz Trucks die Serienversion des batterieelektrischen Fernverkehrs-Lkw eActros 600 vorgestellt. Die Weltpremiere fand südlich von Hamburg auf dem Break Autohof Nordheide, direkt an der A7 statt. Vorausgegangen sind zahlreiche Vorpremieren und unzählige Testfahrten, unter anderem bei winterlichen Bedingungen in Finnland oder jüngst von Stuttgart über den Brenner nach Bozen und wieder zurück. Stolze 1.060 Kilometer schaffte der eActros inklusive Auflieger mit rund 40 Tonnen Gesamtgewicht mit einem Ladestopp. Das kann sich sehen lassen. Schließlich möchte Mercedes-Benz Trucks nach eigenem Bekunden mit dem Fahrzeug einen neuen Standard in Sachen Technologie, Nachhaltigkeit, Design und Profitabilität definieren. Letzteres hänge jedoch auch vom aktuellen Strom- beziehungsweise Dieselpreis und den jeweiligen nationalen Mautbedingungen ab.
Die Serienproduktion des eActros 600 ist laut Daimler-Truck Ende 2024 im Werk in Wörth am Rhein vorgesehen. Dabei wird das Fahrzeug von Anfang an als Sattelzugmaschine sowie als Pritschenfahrgestell-Variante produziert. Derzeit entsteht eine Flotte von rund fünfzig Prototypen, von denen einige Fahrzeuge zu Kunden in die Praxiserprobung gehen sollen. Technisch ist der eActros auf ein kombiniertes Gesamtzuggewicht von bis zu 44 Tonnen ausgelegt. Mit einem Standard-Auflieger hat der 600er in der EU eine Nutzlast von etwa 22 Tonnen. In einigen Fällen kann nationales Recht eine höhere Nutzlast zulassen.
Neues, aerodynamisches Design
Optisch zeichnet sich der eActros 600 durch ein grundlegend neues Design mit klaren Linien aus. Ein großer Kühlergrill entfällt, eine komplett geschlossene und abgerundete Vorbauklappe soll aerodynamische Vorteile bringen. Hinzu kommt ein optimierter Stoßfänger inklusive Unterbodenverkleidung, ein verbesserter Einstieg sowie verlängerte Endkantenklappen im Segel-Design. Luftleitelemente an den A-Säulen, ein zusätzlicher Vor-Spoiler auf dem Dach und ein abgedichteter Motorraum ergänzen die aerodynamischen Maßnahmen. Darüber hinaus ist die Kabine (Mercedes-Benz Trucks vermarktet sie unter der Bezeichnung ‚ProCabin‘) mit Aluminium-Trittplatten, einem neuen Scheinwerferkonzept mit Matrix-LED-Scheinwerfern sowie einem LED-Lichtband ausgestattet. Positiv auf die Aerodynamik wirke sich laut Daimler-Truck auch die um 80 Millimeter verlängerte Front aus. Letztendlich erbrachten Strömungsversuche im hauseigenen Windkanal sowie auch im Straßenbetrieb einen um neun Prozent verbesserten cW-Wert im Vergleich zur bisherigen Actros-Kabine.
Schnellladen in 30 Minuten
Die Typbezeichnung eActros 600 rührt von der (nutzbaren) Batteriekapazität von 600 Kilowattstunden her. Das ist eine Menge und erlaubt, je nach Topografie und Witterungsbedingungen, eben 500 Kilometer Reichweite. Dabei verfügt der Stromer über drei Batteriepakete mit jeweils 207 kWh, also 621 kWh gesamt. Neben dem CCS-Laden (Combined-Charging-System) mit bis zu 400 kW soll später auch das Megawattladen (MCS, Megawatt-Charging-System) möglich sein. Der Standard ist ausentwickelt. Ab Verkaufsstart, der noch 2023 erfolgen soll, könnten Kunden hierfür schon eine Vorrüstung bestellen. Sobald die MCS-Technologie auch verfügbar und herstellerübergreifend standardisiert ist, soll sie nachrüstbar sein. Die Batterien könnten dann an einer entsprechenden Ladesäule mit etwa einem Megawatt Leistung in rund 30 Minuten von 20 auf 80 Prozent aufgeladen werden.
Die LFP-Batterie-Technologie
Die Batterien des eActros 600 kommen von CATL und basieren auf der Lithium-Eisenphosphat-Zelltechnologie (LFP) und sollen sich durch ihre Schnellladeeigenschaften und eine lange Lebensdauer auszeichnen. So haben die Entwicklungsingenieure von Mercedes-Benz Trucks den eActros 600 für dieselben Anforderungen an die Dauerhaltbarkeit von Fahrzeug und Komponenten wie einen konventionellen schweren Fernverkehrs-Actros ausgelegt. Das bedeutet bis zu 1,2 Millionen Kilometer Laufleistung in zehn Betriebsjahren. Nach dieser Nutzungsdauer soll der Batteriezustand (State of Health) noch über 80 Prozent betragen. Im Gegensatz zu anderen Batteriezelltechnologien könnten zudem über 95 Prozent der installierten Kapazität bei der LFP-Technologie genutzt werden. Dies ermögliche eine höhere Reichweite bei gleich viel verbauter Batteriekapazität. Die Batterien wiegen im Übrigen rund vier Tonnen. Man verliert also etwas an Nutzlast, was aber mit rund 2-3 Tonnen im Rahmen bliebe, schließlich entfällt der schwere Verbrennungsmotor, inklusive Getriebe und Anbauteile.
Rekuperation und Predictive Powertrain Control
Speziell für den Einsatz im schweren Fernverkehr hat Mercedes-Benz Trucks eine neue, auf 800 Volt ausgelegte E-Achse mit zwei Elektromotoren und Viergang-Getriebe entwickelt. Die E-Motoren generieren eine Dauerleistung von 400 kW sowie eine Spitzenleistung von 600 kW (bis zu 816 PS) und sollen für eine kraftvolle Beschleunigung, einen hohen Fahrkomfort und eine hohe Fahrdynamik sorgen. Die volle Motorleistung steht zumeist nahezu ohne Drehmomentunterbrechung zur Verfügung.
Bei entsprechend vorausschauender Fahrweise lässt sich durch Rekuperation elektrische Energie zurückgewinnen, die in die Batterien des eActros 600 zurückgeführt wird und im Anschluss wieder für den Antrieb zur Verfügung steht. Durch Rekuperation werden auch die Bremsen des eActros 600 weniger beansprucht, was einen positiven Nebeneffekt darstellt. Situationsabhängig kann der Fahrer zwischen fünf verschiedenen Rekuperationsstufen wählen. Im digitalen Cockpit lässt auf dem Touchscreen auch das One-Pedal-Driving aktivieren – also die Verzögerung per Rekuperation mit reduzierter Betätigung der mechanischen Bremse.
Darüber hinaus verfügt der eActros 600 über die Tempomat- und Getriebesteuerung ‚Predictive Powertrain Control (PPC)‘, die speziell auf den E-Antrieb abgestimmt ist. Die vorausschauende Antriebsstrangregelung berücksichtigt automatisch Topografie, Straßenverlauf und Verkehrszeichen für eine möglichst effiziente Fahrweise. Dabei werden nun auch die Routeninformationen des Navigationssystems mit einbezogen, um eine bessere Erkennung vorausliegender Streckenereignisse zu ermöglichen. So kann der Fahrer unnötiges Bremsen, Beschleunigen und Schalten vermeiden und die Batterieenergie möglichst effizient nutzen.
Multimedia Cockpit Interactive 2
Über das im eActros 600 serienmäßig verbaute Multimedia Cockpit Interactive 2 wird der Fahrer kontinuierlich über den Ladezustand der Batterien, die verbleibende Reichweite sowie den aktuellen und durchschnittlichen Energieverbrauch informiert. Flottenmanager können über das Fleetboard Portal digitale Lösungen zur effizienten Steuerung ihrer Flotte nutzen. Dazu werden zum Serienstart unter anderem ein individuell ausgearbeitetes Charge Management System wie etwa die smarte Steuerung aller Prozesse zwischen dem eActros 600 und der Ladeinfrastruktur sowie ein Logbuch mit detaillierten Angaben zu Fahr-, Stand- und Ladezeiten sowie Verbrauchsdaten zählen. Ebenso wird es ein Mapping-Tool geben, das in Echtzeit anzeigt, wo sich ein Fahrzeug gerade befindet, ob es fährt, steht oder lädt und wie hoch der Ladezustand der Batterie ist.
Nebenabtriebe
Mercedes-Benz Trucks hat für den eActros 600 zwei unterschiedliche Nebenabtriebe entwickelt. Mit dem elektrisch-mechanischen Nebenabtrieb wird es zum Beispiel möglich, hydraulische beziehungsweise mechanische Arbeitsausrüstungen wie etwa Kippsattel-, Schubboden- oder Siloauflieger zu betreiben. Eine weitere Lösung ist der elektrische Gleich- oder Wechselstrom-Nebenabtrieb. Bei letzterem wandelt ein Wechselrichter den Gleichstrom des Hochvoltnetzes in Wechselstrom. Somit können zum Beispiel Lösungen für Kühlkoffer oder Kühlauflieger betrieben werden. Die verschiedenen Nebenabtriebs-Anwendungen decken je nach Variante eine Leistungsspanne von 22 bis 90 kW ab und können die im Fern- und Verteilerverkehr gängigen Einsatzfälle bedienen.
Acoustic Vehicle Alerting System (AVAS)
Der eActros 600 ist, was dem Abtrieb geschuldet ist, vergleichsweise geräuscharm unterwegs. Damit ungeschützte Verkehrsteilnehmer wie Fußgänger oder Radfahrer den Elektro-Lkw in ihrem Umfeld trotzdem wahrnehmen, ist er – entsprechend gesetzlichen Vorgaben – mit einem externen Acoustic Vehicle Alerting System (AVAS) ausgestattet. Je nach Fahrbedingung werden dabei Töne für die Vorwärts- oder die Rückwärtsfahrt abgespielt. Darüber hinaus variiert der Sound je nach Fahrgeschwindigkeit und Fahrpedalstellung, sodass eine gute akustische Wahrnehmung im Stadtverkehr möglich ist. Das Klangspektrum des im eActros 600 verbauten AVAS ist dabei so konzipiert, dass es der Erscheinung eines schweren Fahrzeugs Rechnung trägt und zu einer besseren Erkennbarkeit im Stadtverkehr beiträgt.
Neueste Assistenzsysteme
Mit dem eActros 600 möchte Mercedes-Benz Trucks seine Vision vom unfallfreien Fahren weiter vorantreiben. Die verbauten Sicherheitsassistenzsysteme gehen dabei in vielen Bereichen über die gesetzlichen Vorschriften hinaus. Grundlage für die ADAS ist eine komplett neue, leistungsfähige Elektronikplattform und damit verbunden die sogenannte Sensorfusion zur Verschmelzung von Radar- und Kameradaten für einen noch großflächigeren Blick nach vorne und zur Seite. Die Elektronikplattform bietet zu diesem Zweck eine 20-fach höhere Datenverarbeitung. Die insgesamt sechs verbauten Sensoren – 4 Short Range Radare und ein Long Range Radar sowie die Multifunktionskamera in der Windschutzscheibe – decken einen Winkel von 270 Grad um das eigene Fahrzeug herum ab. Der deutlich vergrößerte Blickwinkel erhöht die Effizienz der Sicherheitsassistenzsysteme – darunter der Active Brake Assist 6 (ABA 6), der Frontguard Assist, der Active Sideguard Assist 2 (ASGA 2) und der Active Drive Assist 3.
Großer Wurf
Daimler-Truck ist mit dem neue eActros tatsächlich ein großer Wurf gelungen. „Der eActros 600 steht für die Transformation des Straßengüterverkehrs hin zur CO2-Neutralität wie kein anderer Lkw mit Stern vor ihm. Er zeichnet sich durch eine hochmoderne Antriebstechnologie aus, die sehr hohe Energieeffizienz und damit Profitabilität für unsere Kunden bieten kann“, so Karin Rådström, CEO Mercedes-Benz Trucks, bei der Präsentation auf dem Break Autohof in Nordheide. Man darf gespannt sein, wie sich die Verkaufszahlen im Vergleich zur Konkurrenz entwickeln.
Den Beitrag finden Sie auch in der Print-Ausgabe 4-2023 der Krafthand-Truck.