Wabco: Härtetests am Polarkreis
Ausgiebige Testfahrten auf abgesperrtem Terrain und ‚in freier Wildbahn‘, um neue Komponenten oder ganze Fahrzeuge vor der Markteinführung auf Herz und Nieren zu prüfen, waren bis vor Kurzem durchaus noch üblich. Doch mittlerweile erledigen immer öfter komplexe Computersimulationen und ausgeklügelte Algorithmen diese Arbeit. Dennoch lässt es sich Bremssystemspezialist und Zulieferer Wabco auch im digitalen Zeitalter nicht nehmen, seine Produkte unter Extrembedingungen am Polarkreis zu testen.
Obwohl unsere Zeit immer digitaler wird, verlässt sich Zulieferer Wabco nicht nur auf omputer-Testprogramme und Prüfstandtests unter ‚klinisch reinen‘ Laborbedingungen, um neue Produkte zu testen. Der Spezialist für Technologien und Dienstleistungen rund um die Sicherheit, Effizienz und Vernetzung von Nutzfahrzeugen verfügt über drei Teststrecken in Deutschland, Indien und Finnland, um seine Systeme und Technologien auch unter extremen klimatischen Bedingungen und bei unterschiedlichen Straßenverhältnissen – und nicht zuletzt auch unter Einsatz des menschlichen ‚Popometers‘ – testen und weiterentwickeln zu können.
30 Jahre Wintertestprogramm
Im Dezember 2017 brachen deshalb wieder zahlreiche Entwickler, Testingenieure und -fahrer zum mittlerweile 30. Wintertestprogramm ins finnische Rovaniemi auf. Dort, direkt am so genannten Polarkreis, hat das Unternehmen 1988 ein eigenes Testgelände errichtet. Auf einer Fläche von elf Hektar gibt es Brems- und Steilspuren, einen Handling-Parcours sowie eine Sektion mit beheiztem Asphaltbelag. „Damit ist das Testgelände bestens gerüstet, um Nutzfahrzeugtechnologien und -systeme zu erproben und zu optimieren“, berichtet Dr. Thomas Dieckmann, Leiter der Vorentwicklung bei Wabco. Dem Experten zufolge bietet der hohe Norden perfekte Bedingungen: Dank niedriger Reibwerte der ‚weißen Pracht‘ (Schnee) sollen sich Stabilitätskontrollsysteme bei hohen bis niedrigen Geschwindigkeiten optimal untersuchen und physikalische Grenzen mit geringerem Risiko austesten lassen. Gleichzeitig seien die Bedingungen sehr stabil, was reproduzierbare Tests erlaube. Darüber hinaus herrscht am Polarkreis von Dezember bis März eine durchschnittliche Temperatur von –30 Grad Celsius – und damit perfekte Voraussetzungen, um bei wintertypischen Streckenverhältnissen Langzeittests zu simulieren. Doch in Zeiten der zunehmenden Digitalisierung eröffnen neue Systeme und Technologien zunehmend interessante Möglichkeiten der virtuellen Testsimulationen und effizientere Prozesse. Wie wichtig sind also Praxistests heute noch? KRAFTHAND-Truck hat diese Frage Dr. Thomas Dieckmann, Leiter Vorentwicklung bei Wabco, gestellt.
Truck: Herr Dr. Dieckmann, wie und auf welche Weise hat sich das Testen neuer Systeme in den vergangenen 30 Jahren verändert?
Dr. Dieckmann: Moderne Entwicklungsverfahren haben in den letzten Jahren tatsächlich den Weg für ganz neue Testabläufe geebnet. Um die Sicherheit und Lebensdauer von Nutzfahrzeugsystemen zu prüfen, spielen Praxistests jedoch nach wie vor eine entscheidende Rolle. Damit stellen wir sicher, dass unsere Systeme zu hundert Prozent funktionieren – vor allem, wenn es um die Serienfreigabe
und Feinabstimmungen in der Performance geht. Wir müssen nachweisen, dass die ysteme den hohen Qualitätsrichtlinien und ISO-Normen entsprechen. Und das ist nur möglich, wenn wir die Systeme an den Grenzen der Radhaftung und der Fahrstabilität testen. Ich glaube, dass die Erprobung auf der Teststrecke heute wichtiger ist denn je. Allerdings sind die praktischen Freigabetests nur ein kleiner Teil innerhalb eines riesigen Testsystems, das immer komplexer wird.
KHT: Welche industriellen Entwicklungen und Faktoren im Nutzfahrzeugbereich beeinflussen denn den Testprozess?
Dr. D.: Zunächst einmal hat sich der Testprozess durch die erhöhte Vernetzung verändert. Damit lassen sich größere Datenmengen in kürzerer Zeit austauschen. Und alle Messdaten stehen direkt online auf dem Server zur Verfügung und können von Kollegen weltweit von jedem Ort aus in Echtzeit abgerufen und analysiert werden. So müssen heute zum Beispiel viel weniger Kollegen zu unserer Winterteststrecke nach Finnland fahren. Und die Mitarbeiter, die tatsächlich vor Ort sind, können sich mit unseren Fachleuten in aller Welt abstimmen.
Gleichzeitig werden aber auch die Nutzfahrzeugsysteme selbst immer komplexer und vernetzter, was immer mehr Codezeilen und Softwarefunktionen bedeutet. Jeder Betriebszustand des Systems, der durch eine bestimmte Codezeile repräsentiert wird, muss überprüft werden, um sicherzustellen, dass das System unter allen Umständen sicher funktioniert. Hier haben Softwaretestverfahren und HIL-Prüfstände (Hardware-In-Loop) wirkungsvolle neue Funktionen hinzugefügt, um die Softwarequalität zu verbessern. So können technische Probleme wie Softwarefehler bereits vor dem Test auf der Teststrecke erkannt und behoben werden. Hinzu kommen spezielle Bedingungen, etwa korrodierte Polräder oder spezielle, seltene Fahrzeug-Setups, die auf der Teststrecke nicht getestet werden können. Daher ist es notwendig, die Tests mit Softwaresimulationen und praktischen Versuchen zu kombinieren. Darüber hinaus erfordert die zunehmende Elektrifizierung der Fahrzeuge die Erprobung elektrisch angetriebener Achsen auf reibungsarmen Oberflächen, denn die Traktionskontrolle bei Radnabenantrieben funktioniert ganz anders als bei Dieselmotoren.
KHT: Macht die Digitalisierung das Testen einfacher oder komplizierter? Und wie wirkt sich das auf Ihren Test-Alltag aus?
Dr. D.: Beides trifft zu. Einerseits ist das Testen komplizierter geworden, weil viele Komponenten bereits vorab durch Simulationen oder unter unterschiedlichen Umweltbedingungen getestet werden müssen. Andererseits ist es einfacher geworden, da bestimmte Testläufe durch automatisierte Vorgänge eingespart werden können, bevor die Hardware in den Prozess miteinbezogen wird. So haben wir beispielsweise für den Ausweichassistenten ‚Evasive Maneuver Assist‘ (EMA), den wir im vergangenen Jahr zusammen mit ZF vorgestellt haben, mit Hilfe einer modellbasierten Entwicklung schnell einen geeigneten Kontrollalgorithmus identifiziert, den wir schließlich im Praxistest noch verfeinert und optimal abgestimmt haben.
KHT: Wie kann die Kombination von virtueller Simulation und realem Testen
zukünftige Testprozesse beeinflussen? Welche Potenziale sehen Sie?
Dr. D.: Da sich Softwarefehler bereits im Laufe der technischen Entwicklung beheben
lassen, werden wir weniger Freigabetests benötigen. Das führt zu kürzeren Entwicklungszeiten und weniger Nachbesserungen auf der Teststrecke. Dort haben wir dann aber mehr Zeit, um uns auf das Testen und Verfeinern neuer Funktionalitäten zu konzentrieren. Und natürlich auf die Feinabstimmung des Systems entsprechend der Kundenvorgaben.
KHT: Herr Dr. Dieckmann, vielen Dank für diese interessanten Ausführungen.
Den Beitrag finden Sie auch in der Print-Ausgabe 1/18 der Krafthand-Truck.