Fahrerassistenzsysteme (FAS) sind immer mehr im Kommen. Dabei stehen die verschiedenen Bremsassistenten besonders im Fokus, da insbesondere solche Systeme Unfälle mildern oder gar ganz verhindern. Doch in welchem Maß können sie das? Und wie leistungsfähig sind diese Systeme schon heute? Und wo gibt es noch Luft nach oben? Darüber tauschte sich KRAFTHAND mit dem DEKRA Experten Jens König aus, ebenso wie über die hinsichtlich FAS anstehenden Herausforderungen für das Kfz-Gewerbe.
Die gesunkene Zahl der Unfalltoten und Verletzten im Straßenverkehr der vergangenen Jahrzehnte ist zu einem großen Teil den deutlich verbesserten passiven Sicherheitsmaßnahmen zu verdanken. Und natürlich lassen sich passive Sicherheitssysteme wie Airbag, Gurtstraffer, Knautschzonen und entsprechend gestaltete Armaturenbretter sowie Karosseriestrukturen immer noch weiter optimieren.
Klar ist aber auch, dass die passive Sicherheit heutiger Fahrzeuge schon sehr weit ausgereizt ist. Somit bietet die Stellschraube ‚Aktive Sicherheit’ noch wesentlich mehr Potenzial, um Fahrzeuginsassen vor Unfällen zu schützen. Zum einen macht das der technische Fortschritt möglich, zum anderen lassen sich mit aktiven Sicherheitsmaßnahmen nicht nur Unfallfolgen abmildern. Im Idealfall verhindern Systeme wie der Notbremsassistent oder elektronische Stabilitätssysteme sogar einen Crash.
Unfallvermeidungspotenzial
So gibt es Studien, denen zufolge 20 bis 30 Prozent der Auffahr- und Fußgänger unfälle vermeidbar wären, wenn entsprechende Bremsassistenzsysteme verbaut wären. Ob diese Zahlen tatsächlich realistisch sind, lässt Jens König, Leiter der Abteilung Unfallanalytik und der Abteilung Unfallforschung bei DEKRA, im Gespräch mit KRAFTHAND offen. Gleichzeitig weist er auf folgendes hin: Auf die Unfallstatistik werden sich Bremsassistenten erst positiv auswirken, wenn sie in der Breite angekommen sind“.
Das heißt: Erst wenn die Mehrzahl des Fahrzeugbestands darüber verfügt, werden sich die Auffahr- und Fußgänger unfälle spürbar reduzieren. Um wieviel Prozent, das muss die Praxis zeigen , meint der DEKRA-Experte. Voraussetzung für die Wirksamkeit und Akzeptanz von (Brems-)Assistenzsystemen ist deren einwandfreie Funktion. Natürlich wollte KRAFTHAND in diesem Zusammenhang Königs Einschätzung dazu hören,…
… wie zuverlässig Bremsassistenzsysteme tatsächlich funktionieren?
Nach meinen Erfahrungen , so König, arbeiten diese im Großen und Ganzen sehr zuverlässig. Doch bei allen Zuverlässigkeits- und Funktionstests gilt: Ob ein Assistenzsystem tatsächlich so funktioniert, wie es sich die Entwickler vorstellen, entscheidet sich letztlich auf der Straße.
Das heißt, es gibt bei der Abstimmung noch Luft nach oben?
König: Ja, die Systeme werden noch deutlich besser werden. Denn natürlich stehen wir gerade bei der Entwicklung und Abstimmung von Bremsassistenten am Anfang. Sicher müssen die Hersteller noch ihre Praxiserfahrungen sammeln. Diese fließen dann wiederum in die stetige Verbesserung der Systeme ein.
Mehr zum Thema Fahrerassistenzsysteme erläutert Jens König, Leiter der Abteilung Unfallanalytik und Unfallforschung im KRAFTHAND-DEKRA-Expertentipp.
Diese Aussage kann die KRAFTHAND-Redaktion anhand dreier Praxisbeispiele untermauern. Im ersten Fall zeigte sich, dass die adaptive Abstands- und Geschwindigkeitsregelung (ACC – Adaptive Cruise Control) bei noch nicht absolut ausgereifter Abstimmung ein ‚unerwartetes Systemverhalten’ an den Tag legen kann. So hat die Redaktion mit einem Ford Kuga (1. Generation) folgende Erfahrung gemacht: Bei aktiviertem ACC kam es während einer Kurvenfahrt zu einer kurzzeitigen und vermeintlich unerwarteten Beschleunigung.
Der Grund: Das vorausfahrende Fahrzeug war aufgrund eines starken Kurvenradius relativ abrupt aus dem Radar bereich des nachfolgenden Fahrzeugs verschwunden, sodass dieses selbstständig beschleunigte und beim Fahrer eine Schrecksekunde hinterließ. Diese ging auf die adaptive Geschwindigkeitsregelung zurück. Schließlich ist es deren Funktion, die am Tempomat eingestellte Zielgeschwindigkeit zu erreichen, sobald kein vorausfahrendes Fahrzeug mehr detektiert wird. Um dem Fahrer solche Schrecksekunden während einer Kurvenfahrt zu ersparen, unterdrückt etwa BMW bei seinem System die Beschleunigung kurzzeitig.
Zweites Beispiel: Der Besitzer eines Golf VII musste kurz nach dem Kauf leider feststellen, dass sein Notbremsassistent nicht funktioniert. Weder warnte das System, noch leitete es eine autonome Bremsung ein. Weil im Fehlerspeicher kein Eintrag über eine Fehlfunktion vorhanden war, musste der Markenhändler einen Spezialisten aus der entsprechenden Fachabteilung aus Wolfsburg hinzuziehen. Nach einigem Hin und Her stellte sich heraus, dass die Kalibrierung des Radarsensors ab Werk minimal verstellt war. Hier müssen Werkstätten in Zukunft sicher noch sensibler werden – letztlich hätte man darauf selbst kommen können.
Das dritte Beispiel erlebte die Redaktion mit einem 2er-BMW: Dieser leitete beim Spurwechsel von einer verengten Autobahnbaustelle auf die normale Fahrspur unvermittelt eine kurzzeitige Vollbremsung ein. Wahrscheinlich, weil beim Einlenken die vorhandene Leitplanke vom Radarsensor als stehendes Hindernis erfasst und somit ein Bremsmanöver eingeleitet wurde.
Wie zuverlässig aber Bremsassistenten heute schon funktionieren, das zeigt der Praxistest mit einem Volvo XC 90 im Klettwitzer Technology Center der DEKRA.
Drängende Fragen
Auch wenn sich die drei erwähnten ‚Problemfälle’ durch entsprechende Software-Updates und Werkstattmaßnahmen aus der Welt schaffen lassen, drängen sich natürlich Fragen auf: Müssen Methoden her, um etwa an bestimmten Stützpunkten eine echte Funktionsprüfung von Bremsassistenten vornehmen zu können? Mit einem selbstgebastelten Hindernis lässt sich dies nämlich nicht realisieren. Weshalb, dazu am Ende mehr.
Eine echte Funktionsprüfung könnte notwendig sein, wenn Kunden bemängeln, der Bremsassistent funktionierte nicht, und im Fehlerspeicher findet sich kein Eintrag. Im Übrigen: Natürlich müssen sich auch die Sachverständigenorganisationen eingehend mit der Prüfung solcher Systeme beschäftigen.
KRAFTHAND-Service: Werkstätten müssen sich vermehrt mit Fahrerassistenzsystemen sowie dem Justieren von Radarsensoren auseinandersetzen. Worauf ist hierbei zu achten, warum müssen nicht mehr alle Sensoren justiert werden und was sind Ursachen für deren Fehlfunktion. Hier gibt die Redaktion Antworten auf diese Fragen.
Eine Frage ganz anderer Natur, die in Zukunft die Gemüter häufiger bewegen und auf die Funktion von FAS abzielen könnte, lautet: Was ist, wenn es aufgrund eines Systemaussetzers zum Unfall kommt oder dieser nicht abgemildert wird, so wie es die Autobauer versprechen? Ist dann wirklich nur der Autofahrer Schuld? Schließlich liegt – nach heutiger Gesetzeslage – die letzte Verantwortung bei ihm und er kann sich nicht uneingeschränkt auf Assistenzsysteme verlassen. Oder trifft den Autobauer eine Teilschuld? Immerhin gilt: Was im Fahrzeug ist, muss auch zuverlässig funktionieren. Es wird sicher spannend, ob diesbezüglich bald erste Streitfälle vor Gericht auftauchen und wie dann entschieden wird.
Herausforderungen für das Kfz-Gewerbe
Vor einer Aufgabe anderer Art stehen Autoverkäufer und Serviceberater. Fakt ist nämlich: Bremsassistenten haben, wie alle anderen Assistenzsysteme auch, ihre Grenzen, und das muss den Kunden erklärt werden. Damit können die Hersteller ungerechtfertigten Kundenbeanstandungen wegen vermeintlicher Fehlfunktionen entgegenwirken.
DEKRA Experte König sagt: Es kommt darauf an, Autokäufern und Werkstattkunden zu erklären, wofür das jeweilige Assistenzsystem gut ist, was es kann und vor allem, was es nicht kann. Dazu ein Beispiel: Noch nicht alle Notbremsassistenten können Fußgänger erkennen. Sie sind im Wesentlichen darauf ausgelegt, vorausfahrende Fahrzeuge zu erkennen und früh genug zu reagieren.“
Warum nicht? Schließlich basieren diese Systeme auf Radar- oder Lidarsensoren im Zusammenspiel mit einer Mono- oder einer Stereokamera.
König: Der Notbremsassistent soll zunächst warnen, wenn man sich einem vorausfahrenden Fahrzeug so schnell und so weit nähert, dass ein Auffahrunfall droht. Reagiert der Fahrer nicht auf die Warnung und eine Kollision ist nicht mehr abzuwenden, leitet der Notbremsassistent autonom eine Notbremsung ein. Da ein Fußgänger jedoch nicht die radarreflektorischen Eigenschaften und Umrisse eines Fahrzeugs hat, wird der Notbremsassistent auf Personen nicht reagieren.
Es ist also alles eine Konfigurationsfrage?
König: Im Grunde ja. Ein Radar- oder auch Lidarsensor sowie eine Kamera bilden die Basis für solche Systeme. Letztlich hängt es von der Software ab, ob Bremsassistenten auf Fahrzeuge, Personen oder bestimmte Wildtiere reagieren. Deswegen ist es wichtig, genau zu erkunden, was das System in dem einzelnen Fahrzeug kann. Gerade in diesem Bereich gibt es ständige Verbesserungen, sodass neuere oder auch aufwändigere Systeme immer mehr können.
Nur mit diesem Wissen über die Leistungsfähigkeit lässt sich also vermeintlichen Beanstandungen entgegnen. Dazu zählt eben auch, dass ein Bremsassistent zunächst nur warnt – und erst dann autonom bremst, wenn ein Unfall normalerweise nicht mehr zu verhindern ist. Das heißt, dem Fahrer soll die Möglichkeit gelassen werden, bis zur letzen Sekunde noch auszuweichen. Würde der Assistent schon vorher bremsen und es deshalb zu Unfällen kommen, könnte der Autolenker argumentieren, dass ihm die Hoheit über das Führen des Fahrzeugs entzogen wurde.
Zum Abschluss des KRAFTHAND-Gesprächs kommt König noch einmal darauf zurück, was Bremsassistenzsysteme können und wo die Grenzen sind. In diesem Zusammenhang erklärt der DEKRA Experte, dass einige Radarsysteme zum Beispiel auch Schwierigkeiten haben, Strohballen zu erkennen, weil diese nicht die reflektorischen Eigenschaften und Umrisse eines Fahrzeugs oder Fußgängers haben. Deshalb gibt es auch in neueren Fahrzeugen zusätzliche Bild erkennungssysteme.
Für Werkstätten heißt das: Die Funktion eines Bremsassistenten lässt sich leider nicht so leicht prüfen, indem man ein derartiges Hindernis als Versuchsobjekt auf die Fahrbahn legt. Die Warnung und eine Notbremsung würden ausbleiben.
Im DEKRA Technology Center
Denkt man an DEKRA, denkt man an Hauptuntersuchungen und Schadengutachten. Dabei verfügen die Stuttgarter im Automotivebereich über viel mehr Know-how. Beispielhaft zeigt sich das am Technology Center Klettwitz direkt am Lausitzring. In dem 2003 von DEKRA eröffneten Technologiezentrum nehmen die Experten der Sachverständigenorganisation etwa Fahrzeugtypprüfungen, Motordauerlauftests et cetera vor. Neben einem Testoval stehen dafür mehrere Prüfstande zur Verfügung, auf denen komplette Fahrzeuge oder einzelne Motoren den jeweiligen Testzyklen unterworfen werden.
Der Grund für KRAFTHAND, dem Technology Center einen Besuch abzustatten, war jedoch ein anderer. Denn es gibt in dem DEKRA-Testzentrum eine sogenannte Fußgängerbrücke zum Prüfen von Fußgängerbremsassistenten. Der Vorteil der Brücke: Es sind crashfreie Tests möglich. Dazu muss man wissen: Der Dummy an der Brücke verfügt über die radarreflektorischen Eigenschaften eines Fußgängers und quert die Teststrecke, während das jeweilige Testfahrzeuge auf ihn zufährt. Schafft es der Bremsassistent nicht, einen Zusammenprall zu vermeiden, wird der Dummy in Sekundenbruchteilen katapultartig aus der Fahrbahn gezogen. Der Dummy und das Fahrzeug bleiben unbeschädigt.
So gut funktioniert der Fußgängerassistent eines Volvo XC 90
Wie gut die Fußgängerbrücke funktioniert und wie leistungsfähig Fußgängerassistenten inzwischen sein können, das konnte die Redaktion im wahrsten Sinne des Wortes selbst erfahren. Als Versuchsfahrzeug stand die neueste Generation des XC 90 von Volvo zur Verfügung. Wie sich bei mehreren Testläufen zeigte, schafft es der Fußgängerbremsassistent des Premium-SUV bis etwa 42 km/h, einen Zusammenprall mit einem Fußgänger – in unserem Testfall mit dem Dummy der Fußgängerbrücke – zu verhindern. Beeindruckend dabei: die komplett automatische Notbremsung und das gleichzeitige Strafziehen der Gurte, wodurch die Insassen ordentlich in die Sitze gepresst werden.
Erst ab etwa 42 km/h konnte der Bremsassistent einen Zusammenprall nicht mehr vollständig verhindern. Zumindest zeigte sich das bei den Tests im DEKRA-Technologiezentrum. Oberhalb dieser Geschwindigkeit wurde der Dummy trotz automatischer Notbremsung des XC 90 blitzschnell aus der Fahrbahn katapultiert. Mit anderen Worten: Im Ernstfall wäre es zu einem – wenn durch die Notbremsung auch abgemilderten – Zusammenstoß mit einem Fußgänger gekommen. Schließlich kommt dieser nicht so schnell aus der Gefahrenzone wie der Dummy der Fußgängerbrücke.